Das Examen ist geschafft und damit auch das „schier endlose Medizinstudium“, wie es Prof. Dr. Oliver Thews mit ein wenig Mitleid in der Stimme nannte. Er hielt am vergangenen Samstag im Löwengebäude der Universität die Festrede zur feierlichen Verabschiedung des Mediziner-Jahrgangs 2016. Zunächst hatte aber der Dekan der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg das Wort und begrüßte nach einem musikalischen Einstieg des Fakultätsorchesters die Absolventinnen und Absolventen des Studiengangs Medizin.
Wenn man es so will, stand die Feier unter einem Motto, das im Grußwort, aber auch in der Festrede zum Ausdruck kam: Dem Wandel des Medizinstudiums, der sich seit einigen Jahren vollzieht, aber nach wie vor und mehr denn je aktuell ist. So sind beispielsweise die 199 Absolventinnen und Absolventen des Jahrgangs 2016 die ersten in Halle gewesen, die nach einem neuen Curriculum im klinischen Abschnitt ausgebildet wurden. Doch das ist nur ein kleiner, lokaler Baustein, der sich in einen größeren Komplex einfügt.
Deshalb verwies der Dekan, nach einigen Quizfragen als „Moderator“, wie er sich vorstellte, darauf, wie sich die Approbationsordnungen für Ärzte nach und nach verändern. Heißt es darin seit 2003, dass das Ziel der Ausbildung der „wissenschaftlich und praktisch in der Medizin ausgebildete Arzt mit grundlegenden Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten in allen Fächern“ sein soll, so könnte es künftig, mit der Umsetzung des „Masterplans Medizinstudium 2020“ (MM2020) lauten, dass sich die Ausbildung daran orientieren soll, die Kompetenzen zu vermitteln, die für die zukünftigen ärztlichen Aufgaben notwendig sind – neben den grundlegenden Kenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen.
Um im Wettbewerb neuer Entwicklungen zu bestehen, bedürfe es deshalb Haltung, aber vor allem auch Evidenz und dafür sei Wissenschaft nötig, so Prof. Gekle, sowohl in der Medizin als auch in der gesundheitlichen Daseinsvorsorge. Dazu gehöre es auch, das alte Struktur- und Prozessdenken abzulegen, um eine „neue Offenheit“ zwischen Kosten- und Leistungsträgern, Berufsgruppen und in der Akademisierung der Aus- und Weiterbildung zu erreichen. „Keine Veränderung ist auch keine Lösung“, sagte der Dekan. Vielmehr ermunterte er die Absolventinnen und Absolventen, mutig zu sein und sozusagen freudig an einem Paradigmensturz mitzuwirken. Die Maxime „Hauptsache fertig, Hauptsache erledigt, keine Veränderungen“ sei ein Weg in mittelalterliche Verhältnisse, als die Erde noch eine Scheibe gewesen sei.
Daran fügte sich bestens die Festrede von Professor Dr. Oliver Thews an, die den Titel „Lernen, lernen, lernen … Hört das denn niemals auf?“ trug und so einige Anekdoten bereithielt, die das Auditorium zum Schmunzeln brachten. Immerhin erklärte der Lehrpreisträger 2016 der Festgesellschaft, dass er vor exakt 30 Jahren an dem gleichen Punkt der Karriereleiter gestanden hatte. Nach seinen Antworten in den Examens-Übungsheften sollte ihn allerdings besser niemand mehr fragen, und er hoffe, dass diese niemals in studentische Hände fallen.
„Sie sind heute als Absolventen deutlich besser ausgebildet, besser vorbereitet auf das Berufsleben als Ärztin oder Arzt mit seinen unterschiedlichen Facetten, als ich“, sagte Prof. Thews. Doch er übte auch Kritik, einer der Vorteile, wenn man einen Vergleich ziehen kann. Die Medizin und die Anforderungen an Ärzte haben sich verändert, aber der vorklinische Abschnitt? „Leider hat sich die grundsätzliche Studienstruktur in den letzten 30 Jahren nur sehr langsam oder gar nicht geändert. Wenn ich zunächst einmal die Vorklinik vergleiche, dann stelle ich fest, dass ich nach genau derselben Struktur gelernt habe, wie meine Eltern 30 Jahre zuvor und Sie jetzt 30 Jahre später immer noch. Es hat sich nichts geändert. Die Fächer, die Kurse, die Inhalte, im Prinzip alles gleich geblieben“, sagte Prof. Thews.Und das müsse aufhören und den modernen Anforderungen angepasst werden. „Die streng an Fachgrenzen orientiere Lehre ist nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen themenorientiert denken, verschiedene Fachdisziplinen müssen zusammen kommen und gemeinsam zu derselben Thematik sprechen“, sagte er und veranschaulichte es gleich noch mit einem Beispiel: So lerne der Student auch heute noch strikt nacheinander zuerst die Anatomie des Herzens, im nächsten Semester dann die Funktionsweise des Herzens und noch ein Semester später dann den Stoffwechsel des Herzens.
Im klinischen Abschnitt sei das in der Ausbildung in Halle bereits gelungen mit einem themenorientieren Lernen in Modulen. Und auch die praktischen Anteile der Ausbildung haben seit vielen Jahren stetig zugenommen, etwas, um das Prof. Thews die heutigen Absolventen auch beneidet. „Sie sind tatsächlich heute deutlich besser auf die praktischen Anforderungen des Arztberufes vorbereitet“, sagte er. Aber, und das sei die Antwort auf die im Titel der Rede formulierte Frage: Das Lernen höre nie auf, denn die Medizin mache ungeheure Entwicklungen in rasender Geschwindigkeit.
Dass die jungen Ärzte und Ärztinnen zumindest regelmäßig an ihre Pflicht erinnert werden, sich weiterzubilden, dafür trug Dr. Simone Heinemann-Meerz Sorge. Die Präsidentin der Ärztekammer Sachsen-Anhalt wies die Absolventinnen und Absolventen in ihrem Grußwort ein wenig augenzwinkernd in die „Geheimnisse“ der Berufskammersystematik ein, die fast schon eine Wissenschaft für sich sind, und erinnerte an ein weiteres Ereignis, das nun auf sie zukomme: die Mitgliedschaft in der Ärztekammer.
Die Frage, die bleibt, ist jedoch: Wie wird das Lernen für künftige Medizinstudenten aussehen? Denn die Medizinerausbildung ist auch in den kommenden Jahren weiter im Umbruch. Oder doch eher im Aufbruch? „Masterplan Medizinstudium 2020“ heißt, wie schon erwähnt, die Zauberformel, an der gern alle Medizinischen Fakultäten und Berufsvertretungen mitmixen wollen, um das Studium nach ihren Vorstellungen zu reformieren.
Doch geht man davon aus, wie die zukünftige Approbationsordnung aussehen könnte, auf die der Dekan verwies, so scheint es, dass die theoretischen Teile abgeschwächt werden. Das Studium verwässere insgesamt sagen Kritiker gar. Also, stellt sich die Frage: Was ist denn nun besser – mehr Praxis oder nicht?
Klar ist, so sagen die Professoren Thews und Gekle, verlangt werde in jedem Fall mehr Wissenschaftlichkeit. Nach wie vor werden beispielsweise die Doktorarbeiten in der Medizin in vielen Fällen von anderen Fachrichtungen nur milde belächelt und Ärzte, wenn überhaupt, nur in Anführungszeichen als Wissenschaftler betitelt. Sowohl Thews als auch Gekle, die als Physiologen selbst forschen, plädieren für eine kritische Auseinandersetzung mit den aktuellen Strukturen und für einen gewissen Anspruch an das Studium. Spannend ist also, wie es denn in 30 Jahren sein wird. Die neue Zeitrechnung hat jedenfalls begonnen.